Ein Kommentar zum Buch: Verlorene Zeiten? DDR-Lebensgeschichten im Rückblick – eine Interviewsammlung / mit Portraitfotografien von Monique Ulrich
Vielleicht sollte sich der Vergangenheitsverlag lieber Zukunftsverlag nennen? ...
... und vielleicht beschreiben junge Historiker Vergangenes unvoreingenommen und ehrlicher
Genau achtzehn Lebensgeschichten, aufgeschrieben von jungen Historikern, sind zwar kein repräsentativer Querschnitt vom Leben in der einstigen DDR, wohl aber ein gewichtiger Beitrag zum besseren Verständnis von Vorgängen, Lebensweisen und -weisheiten in zwei einstigen Ländern, was beiderseits der ehemaligen Grenze wohl noch auf Jahre hinaus Erklärungsbedarfe auslösen wird.
Denn das Buch "Verlorene Zeiten?" beschreibt Verhältnisse einer unter gegangenen Republik, vielleicht besser einer einverleibten Republik, beschreibt einige der wenigen erblichen Reste der Arbeit unserer Väter und Vorväter, aus denen man doch bitte die ehrlichen, fairen und vor allem richtigen !!! Schlussfolgerungen für die Zukunft ableiten sollte. Eine Eigenschaft, die uns Deutschen schon vielfach abgegangen ist, beschreiben wir die Bilderstürmer, den Leinenweberaufstand oder auch vielfach großartige Leistungen der Menschen in der einstigen DDR. Genau das aber ist jenes was sich die Beigetretenen erhofft hatten und in vielem enttäuscht wurden. Vielleicht kann dieses Buch ein wenig jenen die Augen öffnen, die nie in der einstigen DDR waren, aber schon im Vorfeld alles wissen wollten, was den Bürger dort bewegte und allein aus diesem – ebensolchen propagandistischen Wissen, wie einst in der DDR – Schlussfolgerungen ableiteten, die noch in den nächsten Jahrzehnten nachwirken werden. Wenn schon der Rheinländer oder Bayer oder auch der Niedersachse und Saarländer, der dieses Buch liest, dem "roten" Hans Modrow vielleicht Hetze, Ideologie, kommunistische Hartlinerschaft und Propaganda unterschiebt oder Herbert Mießlitz verdammt für seine "West-Theorie", so greift das Buch doch auch zu den Worten jener Menschen, denen nicht die unbedingte Systemtreue nachgesagt werden kann. Da kommt der Naturwissenschaftler Hans Misselwitz zu dem Schluss, dass man die eigene Freiheit von niemandem geschenkt bekommt und auch der Sänger von Pankow, Andre Herzberg war sicher keiner, dem Anpassung und Selbstunterwerfung eigen war. Das Interview mit dem Autor Klaus Kordon spricht ebenfalls "Bände", indem er vor Beginn seines Gespräches ausführt, dass er nicht in einem Band mit DDR-Schönrednern zwischen zwei Buchdeckeln auftauchen möchte. Da ist ein Pfarrer, der zu Wort kommt und eine Krankenschwester, ebenfalls mit im Reigen, die zeigen sollen, dass man sich seitens des jungen Autorenteams doch um die Erfassung von Meinungen und Haltungen breiter Schichten der Bevölkerung der einstigen DDR bemühte.
Noch ein Wort an dieser Stelle zu den Autoren. Ich finde es gut, stark und mutig, sich der Geschichte anzunehmen, die heute viele Politiker gern ausblenden möchten. Ich finde es gut, dass sie damit einer Bilderstürmerei entgegen treten, die wie immer in Deutschland nach Umbrüchen zum Ziel hat, das Vergangene zu verdammen oder zu vergöttern, schlecht zu machen oder in den Himmel zu heben, auf jeden Fall vernichtend mit dieser umzugehen. Dass auch diese Zeit und ihre Menschen viel Gutes, sehr viel Gutes geleistet haben auch unter einem anderen Regime als dem heutigen, dass sei ihnen gut geschrieben und hat nichts, aber auch gar nichts mit verallgemeinernder Verherrlichung der DDR zu tun! Es hat ganz einfach damit zu tun, dass unsere jungen Autoren auch heute auf dem guten Weg sind, zu erkennen dass Heimat- und Volksverbundenheit nichts mit einem übergeworfenen, verallgemeinernden ideologischen Vorurteil zu tun haben und schon gar nichts mit einem Urteil aus eigener Unkenntnis. Wenn schon keine eigenen Erlebnisse zum Bild über eine Sache vorliegen können, so ist es doch nicht mehr als ehrlich und fair gegenüber seinen Mitmenschen, das Hinterfragte auch wahrheitsgemäß zu interpretieren. Dafür gebührt diesen jungen Leuten Dank.
Ich habe dieses Buch gelesen, habe in vielen dieser Lebensgeschichten das eigene, das meiner Familie, meiner Freunde, meiner Väter ebenso wiedergefunden, wie die prägenden Einflüsse der immer größer werdenden Gräben zwischen Ost und West, die von der Propaganda beider Seiten zur Motivierung ihrer Bürger ausgenutzt wurden. Ich durfte Gefühle, Meinungen, Lebensinhalte wiederfinden, die "uns einstigen" DDR-Bürgern aus der Seele gesprochen sind. Einfach, weil dies unser Leben war, einfach weil auch wir in ein System hineingeboren wurden, in dem wir unseren Platz auch erst suchen, erarbeiten und erkämpfen mussten. Weil siebzehn Millionen DDR-Bürger ebenso in festgefügten Staatsstrukturen klar kommen mussten, wie dies 68 Millionen Bundesbürger taten. Eine Tatsache, die heute gern unter den Tisch gekehrt wird, nicht nur von der Politik, sondern gern auch von der Wirtschaft, die mit dem Beitritt astronomische Gewinne in Krisenzeiten erzielte und eine – zugegeben sehr marode Wirtschaft – gnadenlos ausschaltete. Was damit an wissenschaftlich-technischem Vorlauf, an Forschungs-, Bildung-, Gesundheits- und Sicherheitspotenzial ein wenig überheblich und großmannssüchtig vernichtet wurde, wird in Jahrzehnten nicht wieder aufzuholen sein. Genauso gnadenlos, wie dann in den Folgejahren durch eine beispiellose Privatisierungsaktion die Lebensverhältnisse hunderttausender Familien von einem Tag auf den anderen aus der staatlich sanktionierten Geborgenheit und Sicherheit in die der kapitalistischen Existenznot getrieben wurde, was jetzt der Staat auszubaden hat.
Vielleicht ist diese Interviewsammlung ein gutes Stück auf dem Weg, Vorurteile und Vorbehalte auf beiden Seiten abzubauen, generalisierende Elemente aus der Ost-West-Diskussion zu beseitigen. Auf jeden Fall ist es ein gutes Werk auf dem Weg zum besseren gegenseitigen Verständnis, zur fairen oder freundschaftlichen Begegnung zwischen den Bürgern der beiden einstigen "verfeindet gemachten" deutschen Staaten. Und dies auf der eigentlich von Anbeginn an gebotenen gleichen Augenhöhe, zum allseitigen Vorteil. Ein Wesenszug, den viele der Beigetretenen bei Bürgern der alten Bundesrepublik ebenso schmerzlich vermissen, wie die Solidarität unter- und miteinander. Vielleicht bringt es sogar Leben in die Diskussion um eine weitreichende Reform demokratischer Strukturen, die aus Sicht vieler Menschen lange überfällig ist, aber wohl kaum mit Aktionismus wie beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 zielführend realisiert werden kann. Auf jeden Fall, so habe ich Verfasser, Interviewer, Herausgeber und zu allererst die Interviewten verstanden, sollte es ein wohl gemeinter Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft in einer Demokratie sein, an der bestimmt alle Bundesbürger gern mitarbeiten.
Jürgen Haase (freier Journalist)
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