Freitag, 2. Dezember 2011

Achtung Ahnen ich komme! Familienforschung heute


Wer bin ich? Diese Frage ist für uns existenziell. Wer wir sind, wieso wir geworden sind, wie wir sind – das lässt sich vor allem aus der eigenen Familiengeschichte schöpfen und beantworten. Viktoria Urmersbach und Alexander Schug haben in ihrer Buchneuerscheinung „Achtung Ahnen ich komme!“ diese Fragen aufgegriffen und ein Praxisbuch für die Familienforschung vorgelegt, das die gute alte Genealogie auf den Kopf stellt. Die beiden Autoren präsentieren Thesen, die in der Ahnenforschung noch weitgehend Neuland sind. Viktoria Urmersbach bringt es auf den Punkt: „Für uns ist die Familienforschung zu allererst ein Weg der Selbsterkenntnis. Die Ahnen sind in dir und haben etwas zu sagen; verstehen können wir uns nur, wenn wir unser emotionales Erbe aufdecken“. Wie man den Botschaften seiner Vorfahren auf den Grund gehen und Familienforschung als Hobby, unterhaltsame wie spannende Freizeitbeschäftigung oder auch als therapeutisches Mittel einsetzen kann, zeigt der Praxis-Guide Schritt für Schritt. Alexander Schug ist es wichtig, dass das Buch das Handwerkszeug der traditionellen Ahnenforschung vermittelt, aber neue Fragen stellt und vor allem deutlich macht: Familienforschung bedeutet nicht nur, Jahreszahlen zusammenzutragen, sondern das Leben seiner Vorfahren zu ergründen – und kreativ darzustellen, als Buch, als Film, als Podcast. Deshalb geht es im zweiten Teil des Ratgebers ums creative nonfiction writing, um den erzählerischen Gehalt und den roten Faden einer Familiengeschichte.
Urmersbach und Schug sind sich sicher, dass die detektivische Suche nach Informationen über Ahnen großen Spaß macht und ganz neue Perspektiven auf einen selbst und die Familie wirft. „Ich habe noch nie so viel mit der Familie diskutiert über mich, meine Eltern und Großeltern, unsere gegenseitigen Erwartungen und darüber, was diese Familie wohl ausmacht“, so Schug. Urmersbach, erfahrene Journalistin aus Hamburg, ergänzt, dass Familienforschung schon seit Jahren als Trend ausgerufen worden ist. Sie wollte mit ihrem Buch jedoch weit über die klassischen Zielgruppen der über 60-jährigen Männer hinausgehen. Herausgekommen ist ein Ratgeber, der junge Menschen ins Thema einführt und die Ahnenforschung „weiblicher“ werden lässt.
Die Autoren haben damit einen modernen und frischen Ansatz der Familienforschung entwickelt. Dabei verabschieden sie sich vor allem vom Konzept der Blutsverwandtschaft und präsentieren einen Weg, wie Familienforschung in Zeiten der modernen Patchworkfamilie aussehen kann. Und weil die Geschichte weitergeht, stellt sich auch die Frage, welche Spuren das eigene Leben hinterlässt und wie man selbst ein guter Ahne wird.


Dienstag, 1. November 2011

Das schönste Sparschwein der Welt. Schwesterlabel des Vergangenheitsverlags präsentiert Porzellansparschwein


Theosaurus (kurz Theo) ist der Name dieses Sparschweins aus hochwertigem Porzellan. Der Name ist vom Lateinischen ‚thesaurus’ (Schatz) abgeleitet. Sparschweine sind in Kleinasien seit 4.000 Jahren bekannt – und haben sich von dort aus in aller Welt vermehrt. Sie waren einst kleine Tresore, in denen die Ersparnisse aufbewahrt wurden. Sparschweine sind heute seltener geworden. Um so besonderer ist Theo, ein selbstbewusstes Sparschwein. Theo ist einer der letzten seiner Sorte und hat seine eigene Geschichte: Das Design stammt von Morphorm/Martin Schatz, einem Produktdesigner aus Berlin/Hiroshima. Eine der traditionsreichen Porzellanmanufakturen in Deutschland produziert das Sparschwein: die 1874 gegründete Annaburg Porzellan GmbH. Die Verschlüsse beim stehenden Theo sind aus echtem Kork, und stammen von dem ältesten Spezialisten in Deutschland: Der 1900 gegründeten Firma Eugen Hackenschuh. Das sitzende Sparschwein ist mit einem Qualitäts-Metallschloss versehen. Mehr zu Theo, Bilder, Preise, Bestellungen unter: www.theosaurus.de

Mittwoch, 7. September 2011

Neue Heimatfilme gesucht

Niedersächsische Schüler können unter dem Motto "Wo dein Herz wohnt" Heimatfilme drehen. Hauptgewinn: eine Reise zur "Berlinale". Die zehn besten Schüler-Heimatfilme gehen anschließend auf Tour durch regionale Kinos. Einsendeschluss: 31.12.2011
Mehr Infos hier...

Samstag, 9. Juli 2011

Schiebern auf der Spur: Ein Berliner Kriminalfall von 1941


Nach 1945 sicherte der Schwarzhandel das Überleben vieler Deutscher. Doch die illegale Schattenwirtschaft prägte schon lange zuvor das NS-Reich; die „Schieber“ machten ihre Geschäfte – drakonisch bekämpft, aber kaum zu kontrollieren. Der
Begriff „Schieber“ weckt heute viele Assoziationen: Männer mit hochgeschlagenem Mantelkragen, Zigaretten als Schwarzmarktwährung, Drogen, Prostitution, Halbwelt. Aber das Buch über Schieber in Berlin ist keine weitere krimihafte Variante des „Dritten Mannes“. Die Realität ist spannender: Der neu erschienene Band "Schiebern auf der Spur. Eine Berliner Gerichtsakte von 1941" konzentriert sich auf eine umfangreiche Akte der Berliner Staatsanwaltschaft aus der Kriegszeit. Anhand von Berichten der Kriminalpolizei, Verhörprotokollen aber auch Briefen und anderen Dokumenten rekonstruieren die Autoren den Fall eines Schiebers und seiner Tauschpartner. Zugleich spüren sie den Kontexten der Geschichte nach und fragen nach der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsvorstellung, wie sie in den Dokumenten greifbar wird, nach der Rolle von Polizei und Justiz, oder auch nach der Stadt als Raum eines illegalen Alltags, der bereits viele Jahre vor dem Kriegsende Berlin zu prägen begann.
Mehr zum Buch hier:
Malte Zierenberg (Hg.), Schiebern auf der Spur. Eine Berliner Gerichtsakte von 1941, Berlin 2011 (Vergangenheitsverlag), 16,90 Euro (mit zahlreichen Abb.)

Mittwoch, 6. Juli 2011

Verlust der Geschichte. Oder wie unterhaltsam ist die Vergangenheit?


Am Dienstag, den 7.7.2009 machte die Geschichte Pause. In den öffentlichen und den meisten privaten Fernsehsendern gab es keine Abendnachrichten: keine Unruhen im Iran oder in China, keine Finanzkrise, kein Auftritt Obamas – nichts. Stattdessen: drei Stunden Übertragung der Trauerfeierlichkeiten, d.h. einer Unterhaltungsshow, zum Tod des ‚King of Pop’, Michael Jackson. Ein Teilnehmer äußerte später im Interview: „Es war großartig, es war einmalig, das ist Geschichte.”
Das mag ein extremes Beispiel sein, aber dass Unterhaltung Geschichte wird und Geschichte ausdrücklich unterhaltsam sein soll – das erleben wir immer öfter. In wenigen Jahren ist ein breiter und differenzierter Markt für Geschichte entstanden, auf dem gelernte Historiker mit unterschiedlichen Studienwegen und Ausbildungsintensitäten sehr gute Chancen haben. Eine neuerdings boomende private Kulturwirtschaft braucht Kulturunternehmer, vom Organisator oder Mitwirkenden an ‚Living-History-Events’ über das Angebot von Recherche- oder Erzähldienstleistungen für Unternehmen bis zum Reiseleiter oder ‚Destinationsmanager’ im Kulturtourismus. Chancen haben vor allem breit ausgebildete Historiker, solche, die auch von Antike und Mittelalter eine Ahnung haben, und solche Historiker, die es verstehen, eine aktuelle Nachfrage zu bedienen oder gar neue Bedürfnisse zu wecken.[1] Pars pro toto sei aus einer Werbeanzeige in der „FAZ” zitiert: „Braunschweig lädt ein zum ‚Kaiserjahr’. Die Löwenstadt feiert das 800-jährige Krönungsjubiläum Kaiser Ottos IV […]. Für einen vergnüglichen Rundgang durch die Stadt steht Besuchern […] ein Zeitgenosse Ottos zur Seite: Per Audioguide begleitet Gunzelin von Wolfenbüttel, der Truchsess des Kaisers, Individualtouristen als virtuelle, jedoch historisch verbürgte Figur […]. In den Monaten Juli und Oktober […] steht die Kaiserstadt ganz im Zeichen der alten Kunst des Minnesangs. Unter dem Motto ‚Herr keiser, sit ir willekomen’ rufen Sänger nach mittelalterlichem Vorbild […] zum Wettstreit nach Braunschweig […]. Mit spannenden Schaukämpfen, historischen Kostümen und mehr als dreihundert Akteuren lädt das ‚Große Braunschweiger Ritterturnier’ Jung und Alt an einen geschichtsträchtigen Ort ein. Am Kloster Ridaggshausen am Stadtrand der Kaiserstadt können Sie Schwertkämpfe zu Fuß und mit Pferden erleben […]” usw.[2] Hier tut sich ein neues Berufsfeld für Historiker auf. In der deutschen Öffentlichkeit scheint sich ein noch vor wenigen Jahren unvorstellbares allgemeines Interesse an der Vergangenheit durchgesetzt zu haben. Handelt es sich um ein artikuliertes Geschichtsbewusstsein oder um ein etwas naives Bedürfnis, sich selbst in ein positives Verhältnis zum eigenen Herkommen zu setzen – und das auch nicht nur, soweit die eigene Lebensgeschichte direkt betroffen ist, sondern mit langem Atem und jahrhunderteweit in die Vergangenheit zurückreichend? Oder ist hier ein ganz anderes Bedürfnis am Werk, in diversen Mischungsverhältnissen mit den zuvor genannten Faktoren? Noch vor 30 Jahren grämten sich die Historiker über das, was sie ‚Verlust der Geschichte’ nannten und wozu Große des Fachs von Hermann Heimpel[3] über Alfred Heuss[4] bis zu Reinhart Koselleck[5] und Thomas Nipperdey[6] bedeutende Aufsätze schrieben. Heute dagegen wird ein ‚Overkill an Erinnerung’ kritisiert und der vielfach diagnostizierte Geschichtsboom kritisch beäugt. Demnach kann also von einem ‚Verlust der Geschichte’ nicht mehr die Rede sein – oder etwa doch?

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Donnerstag, 16. Juni 2011

Anarchistenkränze und Revolutionsbuttons: Die neue Berliner Ausstellung über die Revolution von 1848 auf dem Friedhof der Märzgefallenen


Am 29. Mai wurde die Ausstellung „Am Grundstein der Demokratie. Die Revolution 1848 und der Friedhof der Märzgefallenen“ im Volkspark Friedrichshain eröffnet. Erstmals in Berlin existiert nun ein Gedenkort, der die Ereignisse rund um das Jahr 1848 aufarbeitet. 48 spielt in der Geschichtsschreibung eine besondere Rolle: Der deutsche Michel gilt gemeinhin als obrigkeitstreu und wenig aufbegehrend. Autoren wie Heinrich Mann hat in seinem Roman „Der Untertan“ diese Eigenschaft meisterhaft beschrieben. Und die Diktaturen in Deutschland im 20. Jahrhundert haben dann bewiesen, wie weit man es mit willfährigen, vorauseilend gehorsamen Bürgern treiben kann. 1848 ist demgegenüber ein völlig anderes Symbol, eins, das zeigt, dass es in Deutschland offensichtlich auch andere Traditionen gibt. 1848 fand die erste Revolution auf deutschem Boden für mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit statt. In Berlin hatte diese Bewegung eines der Zentren.

Viele Jahre engagierten sich die Mitglieder des Paul-Singer-Vereins, um den historischen Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain zu renovieren und eine Ausstellung auf dem Friedhofsgelände zu eröffnen. Mit der Eröffnung im Frühjahr hat der Verein sein großes Ziel erreicht – mit Hilfe vieler Unterstützer. Die Projektleiterin und Geschäftsführerin des Vereins, Dr. Susanne Kitschun, hebt besonders die Stiftung Klassenlotterie Berlin hervor, die die Ausstellung und die bauliche Gestaltung finanziert, die Betriebskosten für zweieinhalb Jahre übernommen hat und damit den Grundstein für eine nationale Gedenkstätte gelegt hat.

Betritt man das Areal vor dem Friedhof, sticht zunächst der Ausstellungspavillon ins Auge. Er besteht aus zwei ehemaligen Seecontainern, die von einer Hamburger Firma für das Projekt bereitgestellt wurden. Im Pavillon wird die Geschichte der Berliner Märzrevolution im europäischen Kontext dargestellt. Die Ausstellung ist innovativ gestaltet und insgesamt gut gelungen: Neben großen Infotafeln, liefert die Ausstellung viele vertiefende Informationen. Der Geist der Revolution und des Aufstandes weht hier in den Containern: Auf Transparenten werden die Losungen und Parolen der 48er-Revolution dargestellt. Die „Helden“ dieser Revolution begegnen den Besuchern als Farbdrucke auf originellen Stoffbeuteln. Als Hingucker erweisen sich auch die „Revolutionsbuttons“. Auf diesen Ansteckern finden sich zentrale Forderungen der Revolutionäre, wie „Gleichberechtigung“, „Religionsfreiheit“ oder „Toleranz“. Für Besucher und insbesondere für Schulklassen besteht sogar die Möglichkeit, sich eigene Buttons zu erstellen. Die 48er-Revolution auf Bannern, Buttons, Jutebeuteln – so macht man Geschichte anschlussfähig für die Popkultur. Das mag nicht jedermans Geschmack sein, aber eröffnet einen sympathisch einfachen und direkten Zugang zur Thematik. Ausstellungspädagogisch ist die insgesamt multimediale Inszenierung des Themas im Container sehr gelungen und das Ausstellungsdesign animierend.
Zur Ausstellung gibt es einen Audioguide, der zusätzliche biographische Informationen aber auch Originaltexte wie die Ansprachen bei der Trauerfeier vom 22. März 1848 und Ausschnitte aus den Festreden zur Hundertjahrfeier von 1948 bietet.

Neben dem Container wartet auf Besucher das historische Friedhofsgelände, auf dem Aufständische der Barrikadenkämpfe von 1848 begraben worden sind. Es sind Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung gewesen, die hier Seite an Seite liegen. Auf dem Friedhofsgelände selbst dokumentiert eine um den zentralen Gedenkstein errichtete Rotunde von Ausstellungstafeln die Geschichte der Begräbnisstätte.
Einer Revolution zu gedenken, die die Abschaffung des geltenden politischen Systems zum Ziel hatte, ist mutig. Dass die öffentliche Hand und öffentlich-rechtliche Geldgeber hinter dem Projekt stehen, stimmt optimistisch. Es spricht für eine offene Geschichtskultur. Das war nicht immer so. Die Tatsache, dass mit der Einweihung der Ausstellung erst relativ spät an die Wurzeln der Demokratie in Deutschland erinnert wird, hat auch damit zu tun, dass Revoluzzer in Deutschland nie besonders gut gelitten waren. In der Kaiserzeit war das deutlich, da wurde der Friedhof von der Polizei ständig überwacht, schließlich kamen hier immer wieder suspekte Personen vorbei, um den Aufständischen zu gedenken. Auf geheimen Fotos der Sicherheitskräfte finden sich über die fotografierten Personen auch Vermerke. So zeigt ein Foto einen Mann, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Friedhof aufsucht und bezichtigt wurde, dass er einen „Anarchistenkranz“ niederlegen wollte. Diese Zeiten sind heute vorbei.
Fertiggestellt ist die Gedenkstätte noch nicht – aber das kann heute problemlos konzeptionalisiert werden. So verstehen auch die Ausstellungsleiter die Ausstellung als noch nicht abgeschlossen, sondern vielmehr im Werden begriffen. Das Unfertige hat etwas Einladendes. Das Werdende ist Ausdruck von Diskursivität. Projektleiterin Kitschun möchte damit einen „möglichst niedrigschwelligen Zugang“ gewähren, also so viele Anregungen wie möglich diskutieren und die Facetten der Ausstellung erweitern. So wird aus einer Ausstellung ein lernendes Museum.
Vor allem auf die Resonanz der Besucher wird es aber ankommen, damit die derzeit temporäre Ausstellung in Zukunft dauerhaft finanziell abgesichert wird. Dieser Aufgabe sieht Kitschun sehr positiv entgegen und würdigt dabei die besondere Stellung der Revolution von 1848, die es leichter mache, Schüler für Demokratie zu gewinnen. 48 ist eine selbst erwirkte Revolution. Sie sollte ähnlich positiv konnotiert werden wie 1989. Dass Demokratie nichts nach 1945 von den Amerikanern Auferlegtes ist, man hier an authentischem Ort Demokratietraditionen ohne den Gedanken der Kollektivschuld diskutieren kann, ist einer der großen Vorteile dieser Ausstellung. (Text: Wolf-Rüdiger Knoll)

www.friedhof-der-maerzgefallenen.de

Sonntag, 27. März 2011

Die Verletzbarkeit der Identität


Seit letztem Herbst gibt es in Deutschland einen neuen Personalausweis, der nach wie vor umstritten ist. Die in dem Dokument festgehaltenen biometrischen Daten sammeln in einem Ausmaß Informationen über jeden, der die Dystopie vom gläsernen Menschen in neue Dimensionen rückt. Biometrie heißt: Den Menschen vermessen. Dass mit dem Ausweis auch Internetgeschäfte sicherer gemacht werden können, hat der Chaos Computer Club unlängst widerlegt. Die Verantwortlichen im Bundesinnenministerium glauben zwar immer noch daran, dass der Ausweis fälschungssicher ist, kann aber offensichtlich auch nicht die 100%ige Sicherheit garantieren. Es bleibt dabei, dass jeder sensibel mit seinen Daten umgehen muss.

Die Szenarien, die mit den biometrischen Daten im Reisepass und im Personalausweis dokumentiert sind, lassen nichts Gutes erwarten. Auch wenn es praktisch vom Gesetzgeber in Deutschland nicht vorgesehen ist, könnten die Daten genutzt werden, um jede Person überall - etwa auch durch Überwachungskameras - identifizierbar zu machen. Die eindeutige Identifizierbarkeit eines Menschen soll angeblich mehr Sicherheit bringen - in Zeiten des Terrorismus kann die Politik damit vieles durchsetzen. Doch wie viel Privatsphäre ist dann noch möglich? Oder: Welchen Wert hat es, wenn Menschen eben nicht total erfasst und identifizierbar sind?
Diese Debatte kann auch unter Verweis auf die Geschichte geführt werden, wie es jüngst Thomas Claes in seinem Buch "Passkontrolle" getan hat. Er zeigt darin, wie sehr Anonymität und eben die Nicht-Identifizierbarkeit von Menschen zu einem hohen Gut der Demokratie geworden ist - nach vielen Erfahrungen, in denen die Identifizierbarkeit gleichzusetzen war mit dem Ausgrenzen, Aussondern und schließlich Ausmerzen. Das ist gewiss eine Keule, wenn man mit der NS-Zeit erneut auch aktuelle Entwicklungen im Passwesen bewerten will. Aber die historische Dimension zu berücksichtigen, würde der Debatte über Datensicherheit, Erfassung von biometrischen Daten und den Umgang damit in Identifikationsdokumenten einiges an Tiefe geben.

Mehr zum Thema: Thomas Claes, Passkontrolle! Eine kritische Geschichte des sich Ausweisens und Erkanntwerdens, Berlin 2010

Dienstag, 15. Februar 2011

Wieso wir uns ausweisen müssen. Ein Interview mit dem Wiener Wissenschaftler Daniel Meßner


1. Sie forschen zur Identifizierung von Personen. Wieso ist das ein relevantes Forschungsthema heute?

Praktiken des Identifizierens und damit verbundene Artefakte, wie Ausweise oder Pässe, verändern sich im Laufe der Zeit. Sie sind eingebettet in einen bestimmten sozio-kulturellen Kontext, ein Rahmen, der geprägt ist von Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen der jeweiligen Zeit. Die damit verbundenen Machtverhältnisse gilt es offenzulegen, um verkürzten Debatten in der Gegenwart entgegentreten zu können, in denen das historische Gewordensein einer bestimmten Entwicklung ausgeblendet wird und der Ist-Zustand als Normal-Zustand proklamiert wird.

2. Wieso muss überhaupt jeder identifizierbar sein? Bzw.: Was geht uns verloren, wenn jeder eindeutig identifizierbar ist?

Die Identifizierung von Personen hat immer zwei Seiten: limitierende und ermächtigende Effekte. Limitierend, weil die Grenzen zwischen Inklusion und Exklusion festgelegt werden und somit bestimmten Personengruppen der Zugang zu einem gewissen Raum verweigert wird. Hier haben ungleiche Machtverhältnisse auch diskriminierende Auswirkungen. Doch die ermächtigenden Effekte dürfen nicht außer Acht gelassen werden: Auf staatlicher Ebene zum Beispiel bedeutet die individuelle Identifizierung auch Zugang zu Bürgerrechten, wie zum Beispiel Sozialleistungen, und eben nicht nur staatliche Kontrolle.

3. Gibt es eine moralische Grenze der Identifizierbarkeit von Menschen?

Ich würde sage, es gibt keine konstante moralische Grenze, sondern moralische Grenzen, die von Zeit zu Zeit variieren können, je nach gesellschaftspolitischem Kontext. Zwei Aspekte sind daher wichtig für die Beurteilung: Erstens, das Ziel der Identifizierung – werden zum Beispiel bestimmte Menschengruppen durch die Identifizierungsmaßnahmen stigmatisiert oder kriminalisiert – und zweitens, mit welchen Techniken bzw. Maßnahmen werden Menschen identifiziert. Ist es zum Beispiel notwendig die Fingerabdruck-Datenbank, die die Daten aller Asylwerber ab 14 Jahren enthält, mit der Datenbank Straffälliger abzugleichen?

4. Ein Gedankenspiel: Würde es heute noch jemandem gelingen eine vollkommen erfundene, neue Identität aufzubauen?

Absolut! Was bedeutet denn, eine Person zu identifizieren? Es ist ein Abgleich verschiedener Datensätze, die von einer Person zu unterschiedlichen Zeit erstellt wurden und ihr zugeordnet werden. In dem Moment, wo bei der Meldebehörde mein Datensatz unter einem anderen Namen neu angelegt wird, habe ich eine neue Identität. Bei einem solchen Fall helfen auch keine biometrischen Verfahren: Mein (neues) Lichtbild wird nun einfach einem anderen Namen zugeordnet. Die Koppelung von biometrischen Daten und Person ist wesentlich fragiler, als wir gemeinhin denken, die Lücke zwischen Mensch und Dokument keineswegs geschlossen. Versuche eine neue Identität aufzubauen gibt es daher häufig: Asylwerber, die ihre Ausweisdokumente vernichten, um eine Abschiebung zu verhindern, oder Zeugenschutzprogramme.

Daniel Meßner, geboren 1979 in Regensburg. Nach dem Studium der Geschichte und Philosophie an den Universitäten in Regensburg und Wien arbeite ich seit 2010 als Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Geschichte an der Universität Wien. In meiner Dissertation erforsche ich die Ausverhandlungssprozesse um die Identitifzierungstechniken Fotografie, Anthropometrie und Daktyloskopie im Kontext der Entstehung von Erkennungsdiensten um 1900. (http://identifizierung.org)

Mehr zum Thema: Thomas Claes, Passkontrolle. Eine kritische Geschichte des sich Ausweisens und Erkanntwerdens, neu erschienen im Vergangenheitsverlag

Mittwoch, 12. Januar 2011

Vorhang auf: Das erste E-Book mit integrierter Theateraufführung


Der Vergangenheitsverlag treibt die Digitalisierung seines Programms weiter voran und experimentiert: Neu erschienen ist Knigges "Über den Umgang mit Menschen" als multimediales E-Book inkl. Theateraufführung. Das in dieser Edition verfügbare Theatererlebnis ist eine Aufzeichnung der Aufführung von „Knigge. Über den Umgang mit Menschen“ mit Reimund Groß (Schauspieler) und Hartwig Nickola (Kontrabass) in der Regie von Annette von Klier. Das Stück adaptiert den klassischen Stoff und nimmt die Rezeptionsgeschichte dieses Klassikers aufs Korn. Jeder kennt heute den „Knigge“; den Business-Knigge, den Kaffee-Knigge, Chat-Knigge, Sex-Knigge. In dem Theaterstück geht es aber vor allem um eins: Der Knigge ist nicht mehr, was er einmal war. Der verstorbene Adolph Freiherr von Knigge (1752–1796) ereifert sich, dass Generationen von Herausgebern sein Werk bis zur Unkenntlichkeit umgeschrieben haben. Jetzt kehrt der gepeinigte Geist aus dem Jenseits zurück in die materielle Welt, um festzustellen, dass sich die Menschen seit seiner Zeit um keinen Deut verbessert haben: randalierende Jugendliche in U-Bahnen, hetzende Politiker in Parlamenten, sektenhafte Verfechter selbst auferlegter Benimmregeln. Wenn Knigge nun zurückkehrt, um seine Texte eigenhändig vorzutragen, bekommt er zur sinnlichen Unterstützung seines Vortrages einen Musiker zur Seite gestellt. Jetzt muss er sich auf der Bühne des 21. Jahrhunderts mit einem Kontrabassisten Namens Brenner herumschlagen, der weit weniger am humanistischen Anliegen des Freiherrn interessiert ist, als viel mehr an der in Aussicht gestellten Gage.

Das Projekt ist für den jungen Vergangenheitsverlag aus Berlin eine Herausforderung: „Die Möglichkeiten der digitalen Welt werden den Beruf des Verlegers grundsätzlich ändern“, so der Verleger, Dr. Alexander Schug. Er wählt schon lange nicht mehr nur Manuskripte aus, verhandelt mit Autoren oder redigiert Texte. Vielmehr werden für Hörspiele Schauspieler gecasted, Erfahrungen mit Filmproduktionen werden gemacht. „Der Verleger von heute verlegt nicht mehr nur Texte, die er auf Papier drucken lässt, sondern er ist ein Content-Produzent, der Texte mit allen möglichen performativen Medien kombiniert und vertreibt“, ist sich Schug sicher.

Über den Umgang mit Menschen (mit einem absurd-komischen Theaterstück) von Adolph Freiherr von Knigge

Preis: 5,99 Euro / exklusiv im iBook-Store von Apple:
http://itunes.apple.com/de/book/isbn9783940621764